Enea hat im Vergangenen Jahr Berühmtheit erlangt, als er gemeinsam mit dem Weibchen Rupert in Rümlang, Kanton Bern, auf der Fensterbank des Harley-Davidson-Autohauses ein Nest baute und erfolgreich zwei Jungvögel großzog. Die beiden Elternvögel stammen aus der im Rahmen des Projektes gegründeten Brutkolonie in Überlingen am Bodensee. Von dort sind die beiden Vögel rund 90 km nach Rümlang geflogen und haben sich diesen Brutplatz ausgewählt. Es ist die erste Wildbrut in der Schweiz seit 400 Jahren. Dem entsprechend gab es auch eine umfangreiche Berichterstattung und viel öffentliches Interesse, weit über die Grenzen der Schweiz hinaus.
Fotounterschrift: "Große Hoffnung und viel Aufmerksamkeit: Die Brut von Enea und Rupert stieß auf breites Interesse. Hier zu sehen ist die feierliche Übergabe einer Ehrenpatenschaft an Jannick Bardy von der Harley-Davidson Filiale durch Johannes Fritz und Anne-Gabriela Schmalstieg. Foto P. Diethelm"
Das Waldrappteam und seine Partner hofften, dass diese erfolgreiche Brut die Gründung einer ersten Brutkolonie in der Schweiz initiiert. Diese Hoffnung wurde konkreter als das Brutpaar im Spätherbst eigenständig über Andermatt und den Gotthard-Pass nach Süden und bis in das gemeinsame Wintergebiet in der Toskana migrierte, begleitet von einem der beiden Jungvögel. Der andere Jungvogel verlor leider im Kanton Zug den Kontakt zu seiner Familie und blieb in der Schweiz und hielt sich fortan in der Region von Luzern auf. Die gesamte Familie überlebte den Winter, einschließlich dem in der Schweiz zurückgebliebenem Jungvogel. Am 13. März verließ Enea als einer der ersten Vögel das Wintergebiet in der Toskana und flog auf direktem Kurs Richtung Zentrealschweiz. Der GPS-Sender erlaubt eine detaillierte Rekonstruktion seines Fluges. Am Vormittag des 17. März erreichte Enea den Ort Domodossola östlich des Lago Maggiore. Er flog anfänglich weiter Richtung Schweizer Grenze, kehrte dann aber um und hielt sich am Nachmittag neben Domodossola auf, wo er auf Wiesen stocherte und dann auf Bäumen ruhte. Am späten Nachmittag erhielten wir ein trauriges Update von Eneas GPS, er war gestorben. Gleich am nächsten Morgen begaben sich die alarmierten Beamten der Carabinieri Forestale nach Domodossola, um in diesem Fall zu ermitteln und vor allem den Vogelkörper und das GPS-Gerät sicherzustellen. Aus der Rekonstruktion, die wir dank der GPS-Daten machen konnten, ergibt sich, dass jemand den Körper verschwinden lassen hat und seitdem fehlt von Enea und dem Sender jede Spur. Die verfügbaren Daten weisen auf einen strafrechtlich relevanten Kriminalfall hin, zumal es sich beim Waldrapp um eine vom Ausserben bedrohte Zugvogelart handelt.
Fotounterschrift "Orbetello, März 2023: Enea beim Besendern durch Birdmanagerin Corinna Esterer kurz bevor er seinen Rückflug in den Norden antrat. Foto C. Esterer"
Der Verlust von Enea ist insbesondere tragisch, weil es sich um einen sehr erfahrenen Zugvogel handelt und weil Enea die Hoffnung verkörpert hat, dass in der Schweiz eine neue Brutkolonie entsteht. Leider ist Enea aber einer von vielen Waldrappen, die jedes Jahr nachweislich oder mit hoher Wahrscheinlichkeit durch menschliche Einflussnahme ums Leben kommen. Jeder dieser Fälle bedroht das Überleben dieser Vogelart, verursacht Tierleid und macht willkürlich und völlig sinnlos einen bedeutenden Teil der Maßnahmen zum Schutz dieser charismatischen Zugvögel zunichte. Allein in der gerade zu Ende gegangenen Jagdsaison zählte das Projekt acht nachweisliche Fälle von illegaler Jagd, sechs davon in Italien, die anderen beiden in Frankreich bzw. Spanien. In Italien werden im mehrjährigen Mittel ein Drittel der Verluste durch illegale Vogeljagd verursacht! Diese Zahlen sind auch deshalb alarmierend, weil davon ausgegangen werden muss, dass auch andere durch internationale Abkommen geschützte Zugvogelarten in ähnlichem Umfang illegal getötet werden. Damit ist die Jagd einer der Hauptverursacher für den teils dramatischen Bestandsrückgang bei zahlreichen Vogelarten.
Aber wir haben auch Erfreuliches zu berichten. Inzwischen ist die Frühjahrsmigration in vollem Gange. So sind auch nach Überlingen am Bodensee bereits Brutvögel zurückgekehrt und sie scheinen sich in diesem Jahr für die Felsnische im Katharinenfels am Bodenseeufer ganz besonderen zu interessieren. Offenbar sind die beiden in der Nische platzierten Waldrapp-Attrappen ein Anreiz für die brutwilligen Waldrappe. Wir hoffen daher in diesem Jahr auf mehrere Brutpaare in der Felswand. Das wäre ein großartiger Erfolg.
Fotounterschrift:"Die Waldrappe zeigen endlich Interesse and der Felswand in Überlingen. Links: Waldrappe, die zum Brüten aus ihrem Wintergebiet zurückgekehrt sind; rechts: Waldrapp-Attrappen. Foto A. Schmalstieg" Zum Waldrapp-Projekt und speziell auch zur Wiederansiedlung in Überlingen hat der Südwestrundfunk kürzlich einen Podcast veröffentlicht: Der Waldrapp am Bodensee – Umstrittene Wiederansiedlung eines Zugvogels. Gemäß einem Artikel in der Zeitung Züricher Unterländer soll in der Gemeinde Rümlang im Kanton Zürich, in der Enea und Rupert im vergangenen Jahr brüteten, das Einhorn im Gemeindewappen durch einen Waldrapp ersetzt werden. Ob es sich beim am 1. April veröffentlichten Artikel um einen Aprilscherz handelt, mag jeder selbst herausfinden. |
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