Die Blindschleiche, ein Reptil aus der Urzeit
Wegen der blei- oder bronzeglänzenden Schuppen wurde sie im Althochdeutschen „Pliutslicho“ genannt, was soviel wie blendender Schleicher heißt.
Über die Blindschleiche ist im Meyer`s Konversationslexikon von 1871 zu lesen: „Reptiliengattung aus der Ordnung der Saurier und der Familie der Schuppenechsen ohne Beine. Der Schwanz dieses bis eineinhalb Fuß langen Reptils ist sehr zerbrechlich (Bruchschlange, Glasschlange). Früher war es den Schlangen beigezählt.“
Linne ordnete die Blindschleiche unter dem lateinischen Namen Anguis fragilis, was soviel wie zerbrechliche Schlange heißt, in die wissenschaftliche Nomenklatur ein. Die Blindschleiche lebt in Europa mit Verbreitungslücken, ostwärts durch die Türkei bis in den gesamten Kaukasus. Durch zoogeografische Aufspaltung durch die letzte Eiszeit gibt es eine östliche und eine westliche “Rasse“. In Deutschland kommt Anguis fragilis fragilis als häufigstes Reptil in fast allen Regionen vor.
Der langgestreckte Körper der Blindschleiche hat einen eidechsenähnlichen Kopf, der ohne Halseinschnürung in den langen, schlangenähnlichen und beinlosen Rumpf übergeht. Die Augen sind klein mit frei beweglichen Lidern und die äußere Gehöröffnung ist mit Schuppen bedeckt. Die Blindschleiche ist im Querschnitt rundlich, die vorderen Stirnschilde grenzen mit breiter Fläche aneinander. Die Färbung ist außerordentlich unterschiedlich, hellfahl oder dunkelbraun bis fast schwarz. Die dunkle Bauchseite der Männchen beschränkt sich auf die zwei oder vier mittleren Längsreihen der Bauchschuppen. Der dunkle Rückenstreifen fehlt. Bei den Weibchen zieht sich zumeist ein breiter nicht unterbrochener dunkler Längsstreifen, der so genannte Aalstrich, vom Hinterkopf an über die Mitte des Rückens. Bei den Jungtieren zieht von einem tropfenförmigen schwarzen Fleckchen auf dem Kopf eine feine schwarze Längslinie den silbergrauen Rücken entlang. Ihre dunkle bis schwarze Bauchfläche und der Flanken ist scharf gegen die helle Oberseite abgegrenzt. Die Grundfärbung der Erwachsenen ist durchsetzt mit einigen deutlichen dunklen Punkten und Linien, aber auch zeichnungslos. An den Seiten befinden sich vier bis sechs dunkle Längsstreifen, die auch miteinander verschmelzen können. Einige Individuen, meist Männchen treten als Besonderheit auch blaugefärbt auf. Die Iris ist bei den Jungtieren dunkelbraun, bei Adulten rötlichgelb. Ihre kleinen Zähne sind spitz und rückwärts gebogen. Die Kloake hat einen quergestellten Spalt. Der in einer hornigen Spitze endende Schwanz ist nicht vom Rumpf abgesetzt und oft länger als dieser. Das Skelett der Blindschleiche ist darauf eingerichtet, dass sie bei grobem Zupacken ihren Schwanz abwerfen kann und so unter Preisgabe ihres Schwanzes an den Verfolger ihr Leben rettet. Aus der schnell heilenden Wunde wächst ein stummelförmiges neues Schwanzende. Der Rücken und die Bauchoberfläche sind mit runden bis sechseckigen dachziegelartigen, sich überlagernden Hornschuppen bedeckt. Unter den Schuppen befinden sich Knochenplättchen, wodurch sie sich steifer fortbewegen als Schlangen. Ihre kurze Zunge ist breit und zweilappig und läuft nicht in feine Spitzen aus. Zur Aufnahme von Geruchsstoffen muss sie zum Züngeln das Maul etwas öffnen. Die Extremitäten sind vollständig zurückgebildet und weisen bei erwachsenen Tieren nur kleine Reste eines Schulter- und Beckengürtels an der Wirbelsäule auf, was auf die Entstehung von Bein tragenden Vorfahren hinweist.
Als Geschlechtsmerkmale verfügen die Männchen über ausstülpbare Hemipenes. Auch ist ihr Kopf etwas breiter. Die längsten und schwersten Tiere sind überwiegend weiblich und können bis 57 Zentimeter lang und in menschlicher Pflege bis 46 Jahre alt werden. Sie bewegen sich, indem sie ihre Bauchschuppen aufstellen und im Boden verhaken und sich abstoßen. Als Kulturfolger findet man die Blindschleiche auf allen nicht zu trockenen Geländeformen im Flach- und Bergland, in den Alpen bis 2000 m Höhe. Als bodenlebende Art bevorzugt sie trockene Sonnenplätze in Nachbarschaft zu etwas feuchteren aber leicht erwärmbaren und nicht zu schattigen Versteckplätzen, mag aber weder Kälte noch zu große Wärme. In unserer Region trifft man sie öfters am Innspitz neben den Hochwasserdämmen und Wegrändern, auch auf den Forstwegen im lichten Auwald. Tagsüber versteckt sich die Blindschleiche auch gerne unter Steinen, Wurzeln oder in den Erdgängen von Nagetieren. Sie kann sich aber auch selbst in den weichen Boden eingraben. Als äußerst friedfertige Tiere versuchen sie niemals den Menschen zu beißen, auch wenn man sie mit der Hand festhält.
Frühmorgens, am späten Nachmitttag und am Abend sowie bei feuchtem Wetter begeben sie sich auf die Jagd nach Kleintieren. Zu ihrem Beuteschema gehören vor allem Nacktschnecken, Regenwürmer, Asseln, Heuschrecken und Spinnen. Die Beutetiere werden mit den Kiefern gepackt und im Ganzen verschluckt. Packen zwei Blindschleichen gleichzeitig zu, zerreißen sie ihr Opfer, indem sich die eine nach rechts und die andere nach links so lange um ihre Körperachse wälzen, bis der Wurm regelrecht abgedreht wird. Auch halten sich die Blindschleichen gern in vermodernden Baumstümpfen auf, wo sie ein reiches Nahrungsangebot vorfinden. Bei der Jagd spielen der Geruch- und der Tastsinn eine wichtige Rolle. Kurze Zeit nach der Überwinterung beginnt die Paarungszeit, wobei die Männchen heftig um die Weibchen ringen. Die Kontrahenten versuchen sich gegenseitig zu Boden zu drücken, verbeißen sich und umschlingen sich ineinander. Bei der Paarung hält das Männchen das Weibchen mit leichtem Zupacken der Kiefer hinter dem Kopf fest und schlingt seinen Körper so um die Partnerin, dass es seine Kloake von unten an das Weibchen pressen kann. Anschließend führt es seine Hemipenes in die Kloake des Weibchens ein, wobei die Kopulation mehrere Stunden dauern kann. Die Weibchen paaren sich später manchmal noch mit anderen Männchen. Die Tragzeit der Weibchen beträgt elf bis vierzehn Wochen. Zwischen Juli und September, manchmal bis November gebiert das Weibchen zwischen fünf und fünfundzwanzig Junge. Die vier bis sieben Zentimeter langen Jungtiere befreien sich sofort, wenn sie zur Welt kommen aus ihrer Eihülle. Vor der Überwinterung wachsen die Tiere kaum noch und erst im nächsten Jahr legen sie an Gewicht und Länge zu.
Im Alter von drei bis fünf Jahren, bei einer Länge von etwa 13 bis 25 Zentimetern, werden sie geschlechtsreif. Die Weibchen scheinen sich nur in jedem zweiten Jahr fortzupflanzen. Es finden jährlich drei bis vier Häutungen statt, wobei die alte Haut wulstartig von vorne nach hinten zusammen geschoben und abgestreift wird. Der Häutungsvorgang kann ein bis zwei Wochen dauern. Je nach Aufenthaltsrevier beginnt die Winterruhe im Oktober bis Anfang November. Sie überdauern die kalte Jahreszeit gesellig in Erdlöchern, die sie mit Moos und Erde verstopfen. In unserer Region kommen die Tiere bereits im März wieder zum Vorschein, in den Gebirgslagen aber erst im Mai.
Die Blindschleiche ist nach dem Bundesartenschutz-Gesetz besonders geschützt, wird aber in der Roten Liste Deutschlands als nicht gefährdet geführt.
Günter Geiß